JazzFest Berlin 2019 im Zeichen der Erneuerung

Vor zwei Jahren zuletzt beim JazzFest gewesen, da konnte ich nicht wirklich etwas Neues entdecken. Es war wie sonst auch immer: Big Bands, viele Angebote für Jazzpuristen und hier und dort die Möglichkeit, Perlen zu entdecken.

Das JazzFest, ein Event gegründet 1964 zu West-Berliner Zeiten, ist gerade 56 geworden. Es ist kein runder Geburtstag, aber es gibt wahrlich viel zu feiern, und, ja, das Fest wurde einer erheblichen Verjüngungskur unterzogen.

Im sonst beschaulichen Wilmersdorf fand man gewagte Projekte, die mehrere Tage andauerten (Work in Progress) und am Abschlusstag präsentiert wurden. 200 Musiker aus 15 Ländern fanden den Weg nach Wilmersdorf und laut Pressemitteilung vom 05.11. haben 7000 Berliner in dem 4-tägigen Festival Präsenz gezeigt – eine Zahl, die vielversprechend ist und gleichermaßen Hoffnung und Neugier auf die Ausgabe 2020 aufkommen lässt.

In der Ausgabe 2019 wurden die Locations erweitert. Neben dem Hauptstandort Haus der Berliner Festspiele, dem Quasimodo und dem A-Trane haben die Musiker den Martin-Gropius-Bau, sonst eine Halle für zeitgenössische Kunst, für Anthony Braxtons „Sonic Genome Projekt“ besetzt. Musik neben den Kunstwerken. Das schaffte Irritation, Verwunderung aber auch Bewunderung.

Die Musiker ©daniela_imhoff
Die Musiker ©daniela_imhoff

Pilze und Jazz

Auf der Ebene im 1. OG sah man Künstler in einer entsprechend dekorierten „Fungus-Ecke“ und jede Menge Eier im Pappbecher, die in eine Schüssel aufgeschlagen wurden. Ob hier eine kulinarische Nische sei, wollte ich wissen. Amüsiert über die Frage, teilte mir der Künstler des KIM Collective stolz mit: „Morgen führen wir hier die ‚Fungus Opera‘ auf“. Spätestens da wurde mir klar, dass die Programmatik sich emanzipierte von den sicheren Nummern, die bei der Mehrheit sicher Gefallen finden würden.

Der Begriff Jazz wurde erweitert, relativiert und mit anderen Künsten, wie Tanz und Videoinstallationen, verbunden, also das Programm komplett umgekrempelt. Das heißt im Umkehrschluss, dass die Zeit der Jazzpuristen in Wilmersdorf vorbei ist. Endlich.

Big Bands bleiben

Eine Konstante im Programm ist und bleibt die Anwesenheit der Big Bands des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Der 02/11 hatte den hessischen Rundfunk mit Joachim Kühn am Klavier als Eröffnung des Abends. Der Zeitpunkt hätte nicht besser sein können, denn kurz davor war das Bundesliga-Spiel Eintracht Frankfurt gegen den FC Bayern mit dem Ergebnis 5:1 zu Ende gegangen. Die Ankündigung des Ergebnisses im Haus der Berliner Festspiele wurde mit tosendem Applaus und lautem Lachen quittiert. Auch wenn an der Qualität der Big Bands nichts auszusetzen ist, war dieser Act enttäuschend, das Repertoire (wenn auch mit vielversprechenden Titeln, wie „Physical Chemistry“ oder „Research has no limits“) verdiente das Prädikat „Zu kopflastig“.

Die hr-Bigband und ihr Chefdirigent Jim McNeely (Mitte, stehend).© HR/Dirk Ostermeier".
Die hr-Bigband und ihr Chefdirigent Jim McNeely (Mitte, stehend).© HR/Dirk Ostermeier“.

Über den Tellerrand

Die Leiterin Nadin Deventer machte keinen Hehl daraus, dass sie sich bei anderen Festivals umhört und im engen Kontakt mit den Künstlern steht. Das war nicht immer so beim JazzFest. Oft hatte man den Eindruck, entweder hatte der Künstler die CD via Management eingereicht und es wurde ausgewertet oder man wählte den bequemen Automatismus der letzten Jahre. Jetzt aber ist alles anders. Es ist organischer, undogmatischer, risikoreicher, und das Beste: mit unvorhersehbarem Ergebnis. Irritationen durch das programmatische und das ästhetische Verschieben sind ein gutes Signal für eine grundlegende Veränderung.

Die Location
Die Location

Late Night Labs

Die Ankündigung – mit Teilen des Publikums auf Stühlen, die auf der Bühne positioniert waren, die andere Hälfte auf dem Boden auf Matratzen vor der Bühne sitzend und dann noch die Musiker drumherum – war Grund genug für die sympathische und stets allürenfreie Leiterin Nadin Deventer zu sagen: „Es ist für mich außergewöhnlich, zu sprechen und gleichzeitig in alle Richtungen zu schauen. Ich mache das dann hintereinander“.

Man mag es kaum glauben, dass es sich doch lohnt, bis sehr spät in die Nacht in Wilmersdorf zu verweilen. Die Szene von einer geordneten Masse im Akkord in Richtung Ausgang nach Beendigung des Konzertes ist nicht mehr. Sicherlich gab es bei der Premiere von Late Night viele, die während der musikalischen Performance gegangen sind. Das Wort Konzert im herkömmlichen Sinne ist im Zusammenhang mit dem JazzFest obsolet geworden. Endlich ist auch im abgelegenen Wilmersdorf die Zeit gekommen, dass Jazz als ein weiter Begriff verstanden wird, weg von den Notenfetischisten, von den Puristen und hin zu der eigentlichen Essenz, die den Jazz ausmacht, nämlich die Lust an Improvisieren. Der ehemalige Leiter, der schwedische Musiker Nils Landgren (2008-2011) und heute Leiter des prestigereichen JazzBaltica, machte das seinerzeit zum Programm. Damals war wirklich die ganze Welt zu Gast in Wilmersdorf. Von A-Capella-Frauenbands aus Schweden über südafrikanische Sängerinnen mit sehr starken Pop-Elementen in ihrer Musik bis hin zu brasilianischer Elektromusik, jazzig angehaucht.

Copyright: PALEFROI
©PALEFROI

Mélange Musicale

Die Zusammensetzung von „Tropic“, „Coco“ und „São Paulo Underground“ ist eine bemerkenswerte logistische Herausforderung. Die Musiker leben in Frankreich, Brasilien, in den USA. Hinzu kommt die musikalische Leitung einer großen Truppe.

                          ©jason_marck/São Paulo Underground

Ein Teil davon übernahm der aus Chicago stammende Rob Mazurek. Die Band „Coco“* wollte den Einfluss des brasilianischen Rhythmus in Tanzeinlagen und in einem Klangmosaik interpretieren. Um die Performance abzurunden, lief auf der Leinwand eine graphische Installation für die man eine besondere Brille benötigte. Auch ich habe ein Exemplar am Eingang von den netten Mitarbeitern der Firma Busch & Dähn bekommen, beschloss aber, diese nicht einzusetzen. Die Sache war ja ohnehin sehr wild in Ton und Klängen, warum also nicht aufs Ganze gehen und sich organisch und gänzlich irritieren, überraschen, begeistern lassen?! Minuspunkte gibt es für die Dauer der Performance. 90 Minuten waren definitiv zu lange, 60 hätten auch gereicht.

Copyright: laurent_poiget
© laurent_poiget

Frauen am Start

Nach einem Jahr Abwesenheit war meine Überraschung groß, als ich lauter Matratzen am Rand der Bühne liegen gesehen hatte, dort wo die Karten am teuersten sind. Zuerst vermutete ich eine skurrile Performance, aber als ich sah, dass Stühle auf die Bühne gestellt wurden, fiel der Groschen. Ab sofort werden die Musiker vom Publikum eng umkreist. Wer auch immer diese Idee hatte, dem gelang ein Volltreffer. Die Spannung lag in der Luft und der Austausch zwischen Musikern und Publikum war organisch und unmittelbar.

Late Night Lab 02.11.
Late Night Lab 02.11.

Es war geballte Sonographie, sehr vielversprechend mit den Namen „Tropic“, „Coco“ und „Sao Paulo Underground“. Um die programmatische Erneuerung zu untermauern, standen diese drei Konstellationen unter der Leitung von Rob Mazurek, der 10 Jahre in Brasilien gelebt hatte. Heute reist er um die Welt mit seiner Trompete und überrascht immer wieder mit neuen Jazz-Perspektiven und -Formen, diesen Still zu begreifen und organisch über sich ergehen zu lassen. Er kann melodisch sein, krachend auf die Tür des Free Jazz klopfend, aber auch mit kaum auszuhaltenden dichten Phrasierungen.

Für die Ausgabe 2020 darf Berlin gespannt sein, mit welchen Formationen und Ideen Nadin Deventer uns überraschen wird und 30 Jahre nach dem Fall der Mauer wäre es höchste Zeit, das Event weiter über die City-West hinaus zu tragen.

*Der Coco ist ein Rhythmus und Tanz der brasilianischen Musik und gehört zur música nordestina, der Regionalmusik des Nordostens. Der Paartanz beruht auf dem Baião und wurde erstmals in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erwähnt. Unterschieden werden verschiedene Varianten des Coco: Coco de sertão (im Sertão, dem Hinterland), Coco de praia (an der Küste), Coco de roda (Straßentanz) und andere. (Quelle:Wikipedia).

Link: hr-bigband.de

About Fatima Lacerda

Kultur, Fußball, Musik sind meine Leidenschaften. Reiseberichte sind ein Genuss!

Check Also

Gründerzeitmuseum Mahlsdorf -Theke aus der Mulackritze

Die Gründerzeitjahre werden im Gutshaus Mahlsdorf wieder „lebendig“

Als Lothar Berfelde in Mahlsdorf geboren und von Freunden liebevoll „Lottchen“ genannt, weil er sich …

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.