Buchvorstellung: STRASSE DES FORTSCHRITTS

Zufallsfunde bei Büchern (Antiquariat, Flohmarkt, Bahnhofsbuchhandlung) sind für mich die schönsten, und weil diese nicht in der Spiegel-Bestsellerliste stehen, will ich hier die Blog-Gemeinde dran teilnehmen lassen. Heute über das Buch „STRASSE DES FORTSCHRITTS“, das ich in einer Ausstellung aufgespürt habe. Es ist amüsanter als der Titel vermuten lässt.

Vorweg zur Erläuterung: Es handelt sich bei den „Stadtplänen der DDR“ zwar nicht um ein reines Berlin-Buch, aber in den neun übersichtlichen Kapiteln habe ich mindestens 24 illustre Beispiel aus der wechselhaften Geschichte der Berlin-Darstellung gefunden – tragische und komische.

Wer heute mit einem Navi in fremden Gefilden herumkurvt, kann sich kaum eine Vorstellung davon machen, wie schwer das früher – womöglich ohne Karte – war. Von den Schwierigkeiten des richtigen Längengrades oder der Entdeckung der Nordwest-Passage mal ganz zu schweigen – da stecken jahrelange Tragödien dahinter. Der Bestseller „Die Vermessung der Welt“ deutet das nur teilweise an.

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Der letzte Plan ohne Grenzübergänge

Die Vermessung Berlins war da ein ähnlich skurriles Abenteuer, in der WEST:BERLIN – Ausstellung im Ephraim-Palais kann man gleich am Anfang sehen, dass für Bürger der DDR die andere Hälfte der Stadt eine weiße Brache war. Aber selbst das eigene Land wurde nicht richtig dargestellt: Aus Angst vor feindlichen Agenten gab es in allen Karten der DDR maßstäbliche Verzerrungen, damit sollten einerseits wohl die US-Raketen in die Irre geführt werden (die hatten allerdings Satellitenbilder gespeichert !), andererseits wollte man Fluchthelfer und andere Republikschädlinge über den genauen Grenzverlauf im Unklaren lassen. Nebeneffekt dieser Ungenauigkeit (alle Maßstäbe waren mit der Angabe circa versehen) war, dass auch eigene Spediteure sich nicht zurechtfanden. Möglicherweise auch einer der Gründe von Versorgungsengpässen (?).

Die Autoren Dirk Bloch und Gerald Noack verstehen es jedenfalls auf 150 Seiten, eine an sich trockene Materie interessant, verständlich und gut bebildert darzustellen.

Einige Beispiele :

  • Im Januar 1954 mussten auf allen Bahnhöfen Ostberlins die gerade erst installierten Pläne des Pharus-Verlages abgenommen werden, obwohl es noch keine neuen gab. Grund : Der Kartograph hatte die ehemalige Charlottenburger Chaussee (westlich des Brandenburger Tors) als Straße des 17. Juni  beschriftet. Ein übler Fauxpas, der Folgen für den Verlag und den Kartographen hatte.
  • Die sog. Geisterbahnen (2 U-Bahn-Linien) wurden nie eingezeichnet, obwohl man sie unter dem Pflaster spüren konnte. Die unterirdische S-Bahn dagegen schon, denn sie hatte ja einen Haltepunkt im Osten (Bf. Friedrichstraße).
  • Von den Schwierigkeiten der ruckartigen Straßenumbenennungen wird allerdings nur am Rande geschrieben (Stalinallee !!). Das wäre wohl ein Buch für sich genommen, wie in Ungnade gefallene Heilige aus dem Stadtbild und aus den Stadtplänen getilgt wurden.
  • Sogar Parteitage wurden auf den Stadtplänen verewigt und zu diesem Anlass Sonderausgaben für die Delegierten gedruckt.
  • Spätestens im November 1989 prallten dann die Welten aufeinander, und es gab bei den Verlagen wohl reichlich Wirbel, weil nun jeweils die andere Seite ja ausführlicher und richtig dargestellt werden musste (was auch für Westverlage galt).
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Keine westlichen U-Bahnen mehr im Plan

Nebenbei gibt es die Historie Berliner Kartenverlage und eine Übersicht über alle erschienenen Stadtpläne der DDR – aber eine Planwirtschaft, die absichtlich ungenaue Pläne verfasst, ist eben auch deshalb dem Untergang geweiht.

Ein amüsantes Buch für alle die, die noch Karten und den Kompass lesen können und sich nicht von einem digitalen Blindenhund durch die Landschaft ziehen lassen.

ISBN  978-3-938753-05-7 oder direkt beim Verlag

About Wolfkamp

Uralter Urberliner. Taxifahrer, Eisenbieger, Schneeschipper, Student, Wagenwäscher, Bananenverkäufer, Bauleiter, Ausbilder, Dozent, Hilfsarbeiter, Operator, Systemanalytiker, Autor, Stadtführer, SES-Experte, Seniorenfahrer, Berliner Schnauze, usw. usw. Ich glaub´, ich habe nichts vergessen . . . . . .

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