Zunächst fing alles vielversprechend an. Bereits zum Jahresbeginn erblickte man auf den Meeresplakaten an den Eingangstüren des Tempodroms, dass sich der Meister der Gegenkultur, der Besitzer einer unverwechselbaren Stimme, (aus der Perspektive noch weit entfernt) im Herbst in die Hauptstadt begeben würde. Die einzige Station im Rahmen der Europatour sollte die deutsche Hauptstadt sein und das gleich dreimal.
Nun ist der Herbst da, das Parlament hatte bereits Dienstag seine erste konstituierende Sitzung, aber das Land hat immer noch immer keine Regierung. Wen kümmert’s? An einem wunderschönen Herbstabend schnell ins Tempodrom. Ankunft gegen 19:20 Uhr. Der Saal ist fast leer, auch wenn es drumherum heißt: Alle 3 Abende seien bereits Sold Out! Aha. Die Spannung steigt doch beim Anblick des Bühnenbildes, mit gigantischen harmonisch plazierten Lichtsäulen.
Ganz vorne an der Absperrung ein Ehepaar aus Hannover. Als der Mann auf die Toilette musste, sagte seine Göttergatin laut „Wir halten den Platz hier für Dich frei(!)“, damit keiner auf die dumme Idee kommt, den Platz streitig zu machen. Kein seltener Vorfall bei Berliner Konzerten. Manche Zeitgenossen glauben tatsächlich, im umbestuhlten Bereich gäbe es so etwas wie eine Platzgarantie, die um Zentimeter verteidigt werden müsste.
Kurz nach 20 Uhr betrat unvermittelt der mittlerweile 72-jährige die Bühne, auffallend fitter als bei manch anderen Konzerten. Sein Lichtmanager aus dem Bundesstaat Nebraska und zum ersten Mal bei einer Europatour mit im Boot, erzählte mir, Bob Dylan habe mit dem Rauchen aufgehört, mache jeden Tag ein paar Übungen und sei insgesamt besser drauf. Er offenbarte noch, dass der Kern des Teams mit dem Tourbus und das restliche Team mit dem Flieger oder mit dem Zug unterwegs sei. Im Übrigen soll Dylan gegenüber seinen engsten Crewmitgliedern ein ziemlich ruhiger Zeitgenosse sein. Diese Unterhaltung kam während einer 20-minütigen Pause zustande. Jawohl – Bob Dylan, ein ehemaliger wilder Bulle offenbar von Altersmilde bestimmt, unterwarf sich der Diktatur der deutschen Bierwirtschaft. Kunst ist gut, aber der Umsatz beim Bierverkauf hat – natürlich – Priorität.
Das Tempodrom mit seinen großräumigen Foyers stellt ein regelrechtes Paradies für Bierkonsumenten dar. Man genießt regelrecht den Gang zum Tresen… Und die Schlange? Je länger sie ist, desto mehr Genuss verspürt man beim ersten Schluck des deutschen Lieblingsgetränks. Gesehen werden möchte man auch. Versteht sich doch von selbst!!
Das Tempodrom als Konzertort ist nur mit äußerster Vorsicht zu genießen und genau darin liegt das chronische Problem. Wenn ich abends ins Konzert möchte, dann steht Vorsicht nicht gerade auf Nummer 1 meiner Prioritätsliste. Aufgrund der Managementstrategie kann man im heutigen Tempodrom alles finden, was zu einem Konzertabend nicht gehört. Die B.E.S.T -Sicherheitsmitarbeiter, zum Beispiel, laufen pausenlos durch die Menschenmenge, plaudern und lachen laut mit den Kollegen, geben an mit ihren Sprechanlagegeräten im Ohr, kurzum können sich vor Langeweile kaum retten, schlimmer noch, machen ein aufmerksames Zuhören zu oft zu einer Herausforderung.
Nun aber zum Konzert: Bob Dylan brachte – wie immer – exzellente Musiker mit. Die meisten saßen aber hinter ihren Instrumenten, während Dylan zwischen Keyboard und dem in der Bühnenmitte stehenden Mikro wechselte. Das Paar aus Hannover hat offensichtlich Spaß. Da ich durch meine ungünstige Position nur die Haare von Dylan sehen kann, ziehe ich um. Mal neben das Mischpult, mal hier mal dort. Insgesamt ist das Publikum sehr unruhig. Alle warten sehnsüchtig auf die Hits, die zu lange auf sich warten lassen. Eingefleischte Bob Dylan-Fans aus erster Stunde, werden sicherlich viel mehr Hits erkannt haben, als meine Wenigkeit. Ich, die noch nicht das Licht der Welt erblickte, als Dylan die Untergrundkneipen im New York der 60er zum buchstäblichen Qualmen verhalf.
Dylan zieht sich auf die Bühnenmitte zurück. Dort hocken die Musiker aufeinander im kleinen Kreis im besten MTV Unplugged-Format. Alles sehr kuschelig als wäre man Freitag abends im Probenraum, um mit den Musikkumpels – bitteschön – gediegen zu musizieren. Anstatt den reizenden, rauchigen, gitarrentechnisch dreckigen Sound, bekam man pasteurisierte, geradezu stimmungstötende Arrangements zu hören. Und die Hits, wo bleiben die Ohrwürmer? – fragte mich eine innere Stimme, die mittlerweile – geradezu minütlich – die Flucht aus diesem stimmungslosen Ort in Betracht zieht. Doch, die werden kommen, das kann er uns unmöglich antun, doch nicht bei Konzertkarten zu den salzigen Preisen zwischen 79 und 90 Euro, sagte eine eher vermittelnde Stimme. Schließlich stirbt die Hoffnung ja immer zuletzt. Also warten, warten, warten.
Es kam – nichts. Erst bei der Zugabe kam der Klassiker „Blowing in the Wind“, jedoch derart destrukturiert, dass der Wiedererkennungswert, und das bei 100% geradezu erkämpfter Aufmerksamkeit, erst beim Refrain ein enttäuschtes A-ha-Erlebnis hervorrufte. Bitte, bitte „Like a rolling stone!“ schrie mein ganzes musikalische Wesen. Der rollende Stein kam nicht. Es sollte ein Gesetz verabschiedet werden, dass Künstlern verbietet, die Melodie von bereits berühmten Ohrwürmer zu verändern. Dies gilt beileibe nicht nur für Bob Dylan. „Blowing in the Wind“ in einen jämmerlichen, geradezu depressiven Titel zu verwandeln, ist ein Verrat an den Fans. Meine schwäbische Freundin würde sagen: „Dort wo ich herkomme, nennt man das irreführende Werbung!“. Aber es immer noch den Bierstand und die Brezeln und die Schlangen… Man gönnt sich ja sonst nichts!!
Einen Tag danach wird man von den Arbeitskollegen neidische Blicke auf sich ziehen, wenn man durchs ganze Grossraumbüro verkündet:“Wir waren gestern bei Bob Dylan“. Dass die Musik dabei eine zweitrangige Rolle spielte, fällt unter den Tisch, interessiert auch nicht wirklich.
Auch wenn die 3 Konzerte als ausverkauft gelten, gibt es immer Kartenverkäufer vor dem Eingang. Aber überlegt es euch sehr genau. Eine kurze Suche bei YouTube mit anschließenden ohrenbetäubenden Genuß daheim tut es auch.
Guter informativer Artikel, danke
da muß man ja nicht hin oder? So hab‘ ich den alten Dylan lieber im Ohr!