1999 bin ich in die große Stadt Berlin gezogen und ich fand eine ziemlich differenzierte Stadt vor. Daher, wenn ich mich 5 Kilometer weiter bewegt habe, war ich in einem kompletten anderen Stadtteil mit unterschiedlicher Architektur, neuen Kiezbewohner usw. Da stellte sich mir die Frage, wie sah denn Berlin in der Vergangenheit aus bzw. wer waren die Berliner und wie haben sie gelebt! Nun gut, mir fiel dann so um das Jahr 2000 das Buch „Wo liegt Berlin? – Briefe aus der Reichshauptstadt“ von Alfred Kerr in die Hände.
Alfred Kerr war Journalist und Kulturkritiker einer Breslauer Tageszeitung und in den Jahren 1895-1900 in Berlin aktiv. Er berichtet als Korrespondent in seinen „Berliner Briefen“ und schildert seine Eindrücke des Berliner Lebens. Berlin war schon wie andere Großstädte die Sperrspitze der Moderne der damaligen Zeit und so kommt es zu vielen fortschrittlichen Begegnungen wie in den folgenden Auszügen erwähnt. So schreibt Kerr 1896 amüsiert über Frauen mit Hosen welche den Kurfürstendamm entlang radeln, über die Öffnung des S-Bahnhofs Savignyplatz und über den Tiergarten welcher Zitat: „ist ziemlich quietistisch und bewegungsfaul – hier aber blüht jeder Art von Sport“. 1897 beginnt den ersten Brief mit einem Auszug eines Goethe-Briefes an Schiller, welcher kein „Prosit Neujahr“ hinterlassen hat, sich aber über die großen Menschenmassen in Leipzig beschwert. Kerr spielt indirekt aber die Verhältnisse in Berlin an, also wenn Goethe sich 1797 über viele Menschen in Leipzig beschwert, dann sollte Goethe wenn es irgendwie ging mal 1897 nach Berlin kommen, da bewegen sich ein paar Menschen mehr! 1899 nimmt Kerr sich auch mal das politische Regime zur Brust: „Schade, daß das ganze Regime, welches jetzt in Deutschland herrscht, ein Kammerherren-Regime ist. Wer werden feudalistisch regiert, und wir werden mit Zeremonien regiert.“ Kerr ist sehr privilegiert zu dieser Zeit, er hat Zugang bzw. erhält Einladungen zu diversen Veranstaltungen aller Art. Herr Kerr besucht Theateraufführungen, Kunstausstellungen oder auch die Weltausstellung in Treptow. Er erhält exklusive Einladungen zu Gesellschaftsabenden im elitären Kreis und berichtet drüber soweit es erlaubt ist und war. Und natürlich berichtet Kerr auch über Dinge die die Stadt, Deutschland und die Welt spricht, und das kann auch mal nur ein kniffiliger Kriminalfall sein!
Ich wiederrum war sehr neugierig und habe mir folgende Fragen gestellt: Gibt es diese Berliner Lebensart immer noch auch im Vergleich zu anderen Bewohnern Deutschlands?. Was hat Kerr damals gesehen, was wir heute auch noch sehen können? Die Friedrichstr und der Potsdamer Platz waren schon da, hatten aber einen anderen Glanz aber so etwas wie das Restaurant Josty hat sich über die Zeit erhalten, alles hat seinen Ursprung auch wenn es manchmal für Marketingzwecke missbraucht wird. Für mich war und ist es immer noch eine Zeitreise darin zu schmökern, der Schreibstil von Kerr ist ein anderer als heute, für seine Zeit schon vom höheren Niveau aber mit manch prolligen Einwürfen ala Zille. Die Sammlung umfasst über 700 Seiten, also nicht gerade wenig aber es lohnt sich! Und es eignet sich ideal Betthüpferl-Lektüre, da jeder einzelne Brief ungefähr 4-7 Seiten lang ist. Wem es noch zu wenig ist bzw. wenn das eigentliche Buch vergriffen ist, dem kann vielleicht mit dem Buch „Aus dem Tagebuch eines Berliners“ von Kerr ausgeholfen werden.