Buchbesprechung: Gebrauchsanweisung für Ostdeutschland

Ich hab selten so ein unterhaltsames Buch über Ostdeutschland gelesen! Jochen Schmidt, 1970 in Ost-Berlin geboren und aufgewachsen in der DDR, nimmt den Leser mit auf eine Reise in die Vergangenheit. Überall im heutigen Ostdeutschland sucht er nach Überbleibseln aus DDR-Zeiten und findet diese an ungewöhnlichsten Orten – wie der alte „Kletter-Pilz“ auf dem Spielplatz der Grundschule – oder er findet sie auch eben nicht 😉

Zum Beispiel auf einer Autofahrt nach Norden, durch Schwerin, Binz, Sassnitz, Stralsund und Schwedt. Das alten Ferienlager aus der Kindheit und die alten Plattenbauhotels, wo er früher mit seinen Eltern Urlaub gemacht hat – vieles ist einfach nicht mehr da, abgerissen. Lenin-Statuen, alte DDR-Kunst-Skulpturen und das ein oder andere Kombinat lassen sich trotzdem noch finden sowie eine Halle voller Trabis, an denen fleißig rumgeschraubt wird.

Man lernt etwas über die Kunst des Improvisierens in der DDR und das Bastelmagazin practic, welches 1988 eine Bastelanleitung zum Bau einer Maus abdruckte, die „sich zur Cursorsteuerung einen festen Platz erobert hat – bei manchen PC gehört sich sogar schon zur Standardausstattung“. Es wurde alles umfunktioniert, um das zu schaffen, was es nicht zu kaufen gab. Frei nach dem Motto „Hast du Isoband und Draht, dann kommst du bis nach Leningrad!“

Gebrauchsanweisung für OstdeutschlandDer Autor führt uns weiter in Orte wie Wernigerode oder Magdeburg. DDR-Relikte wie ein Wandmosaik mit sowjetischen Kosmonauten gibt es zu sehen, DDR-Laternen und die „Betonroulade“ in ¬Halle. Der Besuch beim DDR-Trödel oder Spielzeugmuseum bringt noch mehr alte Schätze zu Tage. Und jetzt weiß ich auch, was der wichtigste Buchstabe im Deutschen ist (lt. eines Pastors einer ungarischen katholischen Schule in der 2. Stunde Deutschkurs): Das W. Sonst hieße es „Alter Ulbricht“ „Affenruhe“ und „Arschauer Vertrag“. 😉

Berlin wird natürlich auch gestreift, man lernt den „Polyplay“ kennen, einen DDR-Videospieleautomat in Form eines braunen Schranks mit Farbfernsehbildröhre für 23.000 Mark, oder was es mit Stalins Ohr auf sich hat. Das Kapitel „Was ich als Ostdeutscher seit der Wende lernen musste“ zählt z.B. das Mülltonnenfarbspektrum, die Klospülung mit großer und kleiner Taste, Nektarinen und Zahnpasta mit Silberfolienversiegelung auf. Der ein oder andere wird hier sicherlich ins Schmunzeln kommen. 🙂

Die letzten zwei Kapitel beschäftigen sich wieder mit allerhand Entdeckungen in vielen Städten wie Eisenhüttenstadt, Zittau, Dresden, Riesa, Wittenberg, Dessau, Erfurt…. „Der Sozialismus siegt“ lässt sich etwa noch als Schatten eines früheren Schriftzugs an einem Hochhaus lesen, und einige Bauten von Ulrich Müther haben auch überlebt. Vieles gibt es jedoch nicht mehr, ist verbaut oder „verschönert“, als schäme man sich für die alte Ost-Architektur. Der Leser lernt außerdem, was „umschlüpfern“ bedeutet, „Schweine Camel“, „dritte Ernte, Schattenseite“ oder „WM 60“ und was es mit dem VEB Kombinat Robotron, Ferropolis oder dem „Paprikaturm“ auf sich hat.

Alles in allem ein Buch, was sich so weg lesen lässt und aufzeigt, was von der DDR heute noch erhalten und was aber inzwischen auch alles schon verschwunden ist.

Das Buch ist im Piper-Verlag erschienen. ISBN: 978-3-492-27669-6, € 14,99.

Zum Autor: Jochen Schmidt, war 1999 Mitbegründer der Berliner Lesebühne »Chaussee der Enthusiasten«. Der Autor und Übersetzer lebt in Berlin und dokumentiert seit Jahren fotografisch die Kuriositäten der DDR-Vergangenheit im Alltag. Er veröffentlichte u.a. zum Jubiläum des Mauerfalls „Drüben und drüben“ (mit David Wagner). Bei Piper erschien von ihm außerdem die „Gebrauchsanweisung für Rumänien“ und die „Gebrauchanweisung für die Bretagne“. www.jochen-schmidt.blogspot.de

About sunnykat

War 4 Jahre lang "Berliner" - im Moment hat es mich ins Rheinland verschlagen. Aber mein Herz geht immer noch auf, wenn ich nach Berlin komme! :-)

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